Fernsehen wirkt bei Kindern nicht so sehr schädlich durch die Nachahmung oft nicht verstandener Verhaltensmuster, besonders bei nicht kindgemäßen Sendungen wie Krimis etc., sondern eher durch die Unmöglichkeit, die Handlung und/oder die Personen durch eigene, der Phantasie oder dem Unterbewußtsein entstammende „persönliche Bilder“ mitzugestalten und auf diese Weise den inneren Spannungsabbau zu fördern. Dieser Gedanke basiert auf der psychoanalytischen Traumtheorie, wonach Träumen einen für die seelische Gesundheit immens wichtigen Spannungsabbau bewirkt.
Da der eigenen Erlebniswelt, dem Unterbewußtsein, kein Entfaltungsraum gelassen, sondern alles vorgesetzt wird, bedeutet Fernsehen, im Gegensatz zum Lesen, somit also ein „Nicht-Ausagieren-Können“, einen inneren Stau von Spannungen. Wieso? Wie ein Buchheld durch Identifikation die Merkmale und Charakterzüge des lesenden Kindes annimmt, wird auch die „gelesene“ Umgebung der Geschchte in der Phantasie des Kindes die persönlichen Züge der Umgebung des Kindes annehmen, ohne daß ihm das unbedingt klar oder bewußt sein muß. Der blaue Sportwagen des Kriminalkommisars hat garantiert das gleiche glänzende Blau wie das eigene „Matchbox“-Auto, das Mädchen sicherlich die gleichen Zöpfe wie die Schwester und der Polizist die gleiche grimmige Miene wie der gefürchtete Dorfsherriff. Es betreibt also beim Lesen Konfliktbewältigung, indem es seine eigene psychische Konstellation und Struktur einwebt und mit dem Gelesenen verknüpft; es spiegelt seine Seele, es wird, wie im Traum, seine eigene Welt einbringen, und wird so Teil einer Welt, die es zwar fiktiv, aber trotzdem aktiv mitgestaltet. Es agiert sich aus auf unterbewußter Ebene.
Beim Fernsehen wird dies unendlich erschwert bzw. schlicht verhindert. Es bleibt nur die Identifikation mit den oberflächlichen – manchmal idealen und wünschenswerten, meist aber nur aggressiven – Verhaltensmustern. Es hat keine Chance, das Geschehen und das vor allem optisch festgelegte „Setting“ auf seine Person und Persönlichkeit umfassend und passend „umzuschreiben“; eine eigentliche Identifikation findet nicht statt und somit auch keine Konfliktbearbeitung, sondern neben diesem entscheidenden Manko noch dazu eine Aufladung des Aggressionspotentials und der Aggressionsbereitschaft: wenn „Gut“ haut, ist das O.K., egal warum. Das zu häufige Nicht-Verstehen verstärkt die unbewußte Frustration, das Unbefriedigtsein über nicht geschehene Identifikation und damit die aggressive Grundstimmung.
Trotzdem berühren Fernsehbilder die tieferen Grundeinstellungen und -konflikte, aber sie bewegen sie nicht, sie setzen sich an die Spitze, heben einzelnes isoliert hervor; der schwarze Krimiheld ist gut, aber die Einstellung zu Schwarzen allgemein bleibt im wesentlichen unangetastet; Miami Vice spielt in den USA, eine andere Geschichte in China oder Südafrika; es wird eine dem Kind fremde Welt präsentiert. Ein gelesener Krimi birgt wenigstens noch die Chance, daß der Leser die Wohnung des Detektivs mit seinen eigenen Farben und Möbeln ausstattet. Selbst Groschenromane animierten zu Denkanstößen: Kommisar X und Jerry Cotton schlossen nie ihr Auto ab, und am Sonntag gingen sie auch nicht zur Kirche. Da konnte man beim Lesen innehalten, überlegen und vergleichen, durchaus hilfreich für einen großen Jungen aus der Provinz. Das können Filme oder Fernsehen nicht leisten. Und auf gut 80 Seiten mußten sie nie zur Toilette gehen?
Fernsehbilder verschütten die psychische Landschaft des Kindes durch Überbauen: sie sind nicht in der Lage, seine persönlichen Eigenheiten einzubeziehen. Das fernsehende Kind wird in die Szenerie des Gezeigten versetzt und von sich entfremdet, es wird ihm vor- und aufgesetzt; das lesende Kind deutet und „schreibt“ das Geschehen auf seine eigene Situation um, personifiziert es und hat somit durch Mitgestaltung und damit Teilnahme erst die Voraussetzung für eine angemessene Chance einer Spannungs- und sogar einer Konfliktbewältigung. Es „arbeitet“ an sich. Das Kind macht sich seinen eigenen, persönlichen Film.
Dieser gesamte Komplex läßt sich zum Teil auch auf Comics übertragen.
Bei den aggressiven Kriegs- und anderen Computerspielen, anfangs noch mehr schlecht als recht in Bilder umgesetzt, aber keineswegs harmloser, verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Offensichtlich waren Moral, Ethik und Achtung vor dem Menschenleben damals noch weiter verbreitet und fester verwurzelt. Wen wundert es heute noch, wenn ein Fünzehnjähriger seine Tante mit der Axt erschlägt oder ein Zwölfjähriger und ein Vierzehnjähriger ein fünfzehnjähriges Mädchen vergewaltigen und umbringen? Solches und anderes wie die Amokläufe an Schulen nehmen seitdem exponentiell zu!
(1986/2022)